Automobil – 113 Jahre Morgan

Die Evolution kann auch anders

Weder die Firma Morgan noch ihre Autos sind seit wenigen Jahren das, was sie über mehr als ein Jahrhundert waren. Man merkt es beiden allerdings nicht an, und wenn, dann auf erfrischende Art. 

Text: Rupert Streiter

Dass Morgan besser nicht versucht, modern auszusehen, erfuhr die Firma 1963 schmerzlich: Der Morgan Plus 4 Plus war nicht nur etwas krampfig in die Nomenklatur der Marke eingepasst, das Coupé mit seiner Gfk-Karosserie sah mit seinem Dach im Calimero-Design obenherum etwas tollpatschig und untenherum wie ein britischer Sportwagen des Jahres 1963 aus. (Auch die Zeichentrickfigur Calimero ist übrigens Jahrgang 1963, da muss ein Eierschalen-Zeitgeist in der Luft gelegen sein.)

Calimero entwickelte sich gut, das Auto aber war ein Flop, in seiner fünfjährigen Leidensgeschichte verkaufte Morgan lediglich 26 Exemplare. 1967 stoppte Firmeneigner Peter Morgan das Projekt, um fortan wieder das zu tun, was die Firma kann: Legenden ihrer selbst bauen.

So kam Morgan, seit der Gründung 1910 beheimatet in Malvern Link, Grafschaft Worcestershire, bis knapp in die Neuzeit. Dann passierten einige Protuberanzen, die in anderen Firmen bestenfalls als Fußnoten in die Annalen eingeflossen wären, bei Morgan aber Umstürzen gleichen: Seit 2019 gehört die Mehrheit bei Morgan einer Investorengruppe, und Charles Morgan ist schon etwas länger nimmer im Unternehmen. Man darf sich seine Hinauskomplimentierung nicht vollständig von britischer Höflichkeit durchwirkt vorstellen.

Und seit drei Jahren sind Morgans unter der hinreißenden Karosserie aus verklebtem und genietetem Alu, und das Fahrwerk ist eher vom Rennsport inspiriert, aber der Reihe nach.

Zwischen den Welten

Als Henry Frederick Stanley Morgan (1881–1959) im Jahr 1909 einen 7-hp-Motor von Peugeot kaufte, wollte er eigentlich ein Motorrad drumherumbauen, entschied sich dann allerdings für ein Automobil. Diese zierliche Unentschlossenheit sah man seinen Konstruktionen lange Zeit an, denn sie waren Threewheeler mit zwei Rädern und einem Motor vorne im Fahrtwind, hinten reichte ein Rad. Die anfangs zerklüfteten Karosserien gewannen an Eleganz und zumindest visueller Windschlüpfigkeit, HFS Morgan wechselte bisweilen die Lieferanten seiner Motoren, blieb aber stets seiner Vorderachskonstruktion mit den Schubhülsen treu. Das sollte bis 2019 so bleiben.

1936 sah den ersten Morgan mit vier Rädern, damit war die wesentlichste Innovation der ersten 109 Jahre abgehakt.

Beim Design kam diese erst 1952. Da verpasste Morgan seinen Autos die heute Denkmalschutz genießende gerundete Nase, und die Modellbezeichnung verriet alles: Der 4/4 hatte vier Räder und vier Zylinder, beim Plus 4 war der Motor größer und potenter, 1968 kam der Plus 8 mit Rovers wunderbarem Alu-V8 dazu, auch er zählt längst zum britischen Nationalheiligtum. Mit dem Aero 8 bewies Morgan im Jahr 2000, dass Autos auch schielen können, die Coupéversion AeroMax wurde in lediglich 100 Exemplaren handverlesen, unter der Kundschaft befanden sich Rowan Atkinson, Paul O’Grady und  Richard Hammond.

Auch der Threewheeler kam wieder: Was Morgan beim Genfer Autosalon 2011 zeigte, bog tatsächlich auf die Straße, 115 PS trafen auf 550 Kilogramm, und derzeit ist eine Elektroversion im Gespräch.

Motoren und Getriebe wurden stets zugekauft, vorwiegend aus britischen Quellen (Standard/Triumph, Coventry Climax, Ford, Rover), bisweilen kamen sie von Fiat, vor etlichen Jahren näherte sich Morgan an BMW an. Da war vor allem Ersatz für die ausgelaufenen Rover-V8 gefragt, fortan lieferte BMW die Aggregate zu, das ist bis heute so geblieben. 

2019 aber begann die Moderne

Und zwar sowas von: Am Genfer Salon präsentierte Morgan den Plus Six mit seinem geklebten Alu-Chassis, mit Einzelradaufhängung und Schraubenfedern rundum, mit BMWs wunderbarem B58-Dreiliter-Reihensechszylinder. 340 PS katapultieren den Plus Six in 4,5 Sekunden auf 100, bei 267 km/h Höchstgeschwindigkeit werden die Watschen des Windes heftig. Die eigentliche Sensation ist das neue Fahrgestell, 100 Kilogramm leichter als der alte Leiterrahmen, bei doppelter Verwindungssteifigkeit. Eschenholz verbleibt natürlich im Gefüge, und zwar im Rahmen der Fahrgastzelle – ein paar Traditionen wollen eben weiter verhätschelt sein.

Wer zart anfragt, ob 340 PS in einem Roadster wirklich sein müssen, wird seit März 2020 auf den neuen Plus Four verwiesen. Der hat lediglich drei Prozent der Teile seines Vorgängers Plus 4 übernommen, und es darf als hohe Kunst gelten, ein Auto zu 97 Prozent neu zu konstruieren, und es schaut aus wie davor. Ein völlig gelungener Modellwechsel nach 68 Jahren also aus Sicht der Fans, und für andere werden Morgans ohnedies nicht gebaut: Wer hier einsteigt, hat einen langen Weg unerschütterlicher Zuneigung genommen und dabei 90.000 Euro aufwärts bezahlt, zur Belohnung gibt’s 258 PS aus dem Zweiliter-Twinturbo-Vierzylinder, das Fahrwerk bleibt damit chronisch unterfordert, aber man kann sich gut mit dem so trefflich in die Moderne gepflegten Interieur ablenken: In Skalen von berückender Schlichtheit drehen sich echte Zeiger, wiewohl hinter dem Lenkrad ein Display wohnt; das Verdeck ist mit milden Anstrengungen zu öffnen, man wirft es gerne in den Nacken, wenn nicht grad Graupelschauer niederprasseln; wer in den Klappenauspuff investiert hat, kann sich ein wenig mehr Raubauz gönnen, der ohne elektronische Einspielungen auskommt und jene Noblesse wahrt, die gut zu Morgans, Teetassen und dezent abgespreizten Fingern passt: Auch mit 258 PS wird ein Morgan nicht zum Prolo mit Bierfahne, sondern zum Roadster zum Verlassen dieser Welt.

Das Fahrwerk ist unerbittlich, aber mit Samthandschuhen, man gönnt dem Motor beim Runterschalten gerne etwas Zwischengas, weil der Klang dann so schön den Rücken runterrinnt, und man verlässt gerne die Autobahn, um Kurven auszuschmieren und durch Serpentinen zu wedeln, gefühlsmäßig mit dem Hintern auf der Fahrbahn. Nur damit wir das auch erwähnen: Die Scheinwerfer leuchten per LEDs, Bluetooth wartet schon im Auto, der Wunsch nach einer Klimaanlage wird gerne erhört.

Es ist eben nichts wie früher, aber vieles ist besser.

Am Design des Morgan Plus Six hat sich die Zeit einen Zahn ausgebissen, darunter aber ist alles neu.

Fast immer Familienbesitz

Sogar bei den Chairmen ist sozusagen ein Modellwechsel zu verbuchen, der sich gewaschen hat, und das nach Jahrzehnten wohliger Kontinuität: HFS Morgan regierte bis zu seinem Tod 1959, dann übernahm sein Sohn Peter Morgan, Jahrgang 1919, und er blieb bis knapp vor seinem Ableben im Jahr 2003. Hernach wechselten einander ein paar Freunde der Familie ab, bis 2010 Charles Morgan, Jahrgang 1951 und Enkel des Firmengründers, übernahm. Es war eine Zeit dünner Finanzen, schon 2010 retteten nur massive Umstrukturierung und ein finanzieller Zuschuss von 15 Millionen Pfund die Firma, sie verkaufte quasi sich selbst alle Produktionsmittel und hieß fortan Morgan Technologies statt Morgan Motor Company. Mitte der 2010er-Jahre sah Morgan wieder vermehrt Besuche von Politikern und Royals, im Jänner 2016 überstützte die Britische Regierung Morgan mit sechs Millionen Pfund. Da war Charles Morgan schon nicht mehr dabei: Seine schrittweise Demontage dauerte von Jänner bis Oktober 2013, heute ist er lediglich ein für den Fortlauf der Geschichte unbedeutender Aktionär. Dem Rest der Familie geht’s ähnlich, die Mehrheit der Aktien gehört der italienischen Investindustrial-Gruppe. 

Bis nach Österreich

Über Jahrzehnte wurden Morgans von der Firma Kössler-Hammerschmid in Trumau nach Österreich gebracht und auch dezent verbessert, noch heute kümmert man sich dort mit geballter Kompetenz um die klassischen Morgans, also alles vor 2019. Mit dem Wechsel zum Alu-Chassis übernahm die Firma Car Collection im oberösterreichischen Schwertberg den Import.

Heute werden in Malvern Link rund 850 Autos pro Jahr montiert, nach wie vor von Hand, nur die Wege, die dazwischengeschoben werden, sind ein wenig gestrafft. Die Wartezeit beträgt rund ein halbes Jahr – ein wesentlicher Fortschritt, denn es waren einst auch schon einmal zehn Jahre, wie bei einem Trabant. Und Morgans sehen aus, wie sie aussehen sollen, jetzt und immerdar. Wir wollen das alles als Zeichen beruhigender Kontinuität werten, auch wenn ein Plus Six die 100.000-Euro-Schwelle bereits deutlich überfahren hat. Ein Plus 4 Plus im hervorragenden Zustand ist heute allerdings teurer, aber der durfte mittlerweile auch 60 Jahre reifen. Und er schaut jetzt wunderbar klassisch aus.