piatnik

Das Leben ein Spiel

Wer in Wien die verlorene Zeit sucht, wird auf der Hütteldorfer Straße fündig. Aber erst weiter draußen im Westen, wo schon Bäume die Straße säumen, kleine Einzelhändler und Dienstleister statt Filialen großer Ketten das Angebot auffächern und nur wenige mo­derne Zweckbauten die Grandezza der Jahr­hundertwende-Architektur stören. Weit schweift der Blick, bei einem großen grauen Haus bleibt er hängen. In der Mitte der Jugendstilfassade des mächtigen Gebäudes sind die Symbole der vier Spielkartenfarben deutlich zu sehen: Herz, Karo, Pik und Treff.  Das muss es sein: die Keimzelle geselliger Spielabende, der Vatikan aller Kartendippler, die Heimat für so
viele Auszeichnungen und Awards aus dem In- und Ausland – die Wiener Spielkartenfabrik Ferd. Piatnik & Söhne GmbH und Co. KG.

Das Familienunternehmen ist längst Legende: Gegründet wurde es 1824 von einem Herrn Anton Moser als Kartenmacherei in Wien-Neubau. Nach dessen Tod im Jahr 1843 übernahm sein in Ungarn geborener Mitarbeiter, der Kartenmaler Ferdinand Piatnik, alles: den Betrieb als Eigentümer, das Firmenschild als Namenspatron und die Witwe als neue Ehefrau. 1885 starb Ferdinand Piatnik. Seine Witwe Johanna und die technikbegeisterten Söhne Ferdinand II. und Adolf übernahmen das Unternehmen, 1891 folgte der Modernisierungsschub. Der nunmehr unter „Ferd. Piatnik & Söhne, Wien“ firmierende Betrieb setzte auf Industrialisierung. Dafür war in den engen Gassen im siebten Bezirk kein Platz. Also baute man in der Vorstadt, in Hütteldorf. „Damals stand das Haus allein auf weiter Flur.
Es gab kein Wasser, keinen Strom, gar nichts“, erzählt Dieter Strehl, der Urur­enkel des Firmengründers Ferdinand Piatnik, der das Unternehmen heute gemeinsam mit Wolfgang Mayr-Kern leitet. Es war der Anfang einer Erfolgsgeschichte, die österreichischer kaum sein kann. Tatsächlich geht es Piatnik heute prächtig. Mehr als 70 Länder werden beliefert, um

die 40 Millionen Jahresumsatz erzielt, Vertriebstöchter in Deutschland, Tschechien und Ungarn unterhalten. 25 Millionen Spielkarten-Pakete, drei Millionen Brettspiele und eine Million Puzzles werden in Wien-Hütteldorf von 105 Mitarbeitern produziert und weltweit verkauft. In Österreich ist man als Spieleverleger klarer Marktführer, in Europa zumindest in der Spitzengruppe zu finden. Sogar im weltberühmten Casino in Monaco pokerte man schon mit Piatnik-Karten. „Die letzten beiden Jahre waren außergewöhnlich gut“, erzählt Strehl. „Das war dem zufälligen Zusammentreffen zweier Faktoren geschuldet: Die Pandemie hat dazu beige­tragen, dass Dinge, die man zu Hause machen kann, deutlich gefragter waren. Zudem haben wir eine Reihe von Preisen gewonnen: Mit Speedy Roll jene für das Kinderspiel des Jahres in Deutschland, im Jahr darauf bekam Vampire Party dieselbe Auszeichnung in Finnland und eroberte Skandinavien. Das ist für uns ähnlich wertvoll wie ein Oscar für Schauspieler: Die Verkäufe der ausgezeichneten Spiele steigen ums Dreißig- bis Hundertfache.“ Was fast wie eine Entschuldigung klingt, ist auch Wiener Tradition: Wenn es gut läuft, bleibt man bescheiden. Es ist eine Einladung zum zweiten Blick, erst dann sieht man, dass das wirtschaftliche Ergebnis weniger von Fortune denn von Geschick geprägt ist, das schon so vielen Traditionsbetrieben zu Höhenflügen verhalf.

Tradition trifft Innovation

So auch bei Piatnik. Natürlich ist der Eingang zum Unternehmen mit rotem Teppich auf schwarzem Marmor imposant. Vorbei geht es am bronzenen Relief im Gedenken an den Firmengründer, ein paar Stufen später zeigen Setzkästen mit Spielkarten aus verschiedensten Epochen Kunstfertigkeit und Qualität, der man in Hütteldorf eine Heimat gegeben hat. Zu sehen gibt es auch Kunst: Schließlich
haben sich sogar die begnadete Grafikerin Ditha Moser und Arnold Schönberg an der Spielkartengestaltung versucht. Entstanden sind detailreiche Motive mit eingeschränkter Tauglichkeit: Man musste schon genau analysieren, welche Figur nun auf der Karte abgebildet war. Kein Wunder, dass man lieber bei den klassischen doppeldeutschen Karten mit den Motiven aus Wilhelm Tell blieb.

Nach wenigen Schritten geht es dann ins Chefbüro, eingerichtet mit schweren ­Jugendstilmöbeln. Durchaus herrenzimmertauglich, wären da nicht die Berge an Büchern, Stapel an Brettspielen in unterschiedlichsten Sprachen, gewagt geschlichtete Puzzlekartons und dazwischen die bei Preisverleihungen errungenen Statuen. Hier lebt die Legende. Die Wiener haben den Firmengründer ohnehin längst kanonisiert. Tummeln sich etwa beim Schnapsen allzu viele Unter im Blatt, wird mit „Heiliger Piatnik, schau oba!“ um himmlischen Beistand gefleht. „Die Tradition motiviert mich. Wenn ich auf die Porträts meiner Vorfahren blicke – auch wenn die alle so ernst schauen –, dann will ich das weitertragen, was über so viele Gene­ra­tionen erfolgreich geworden ist“, sagt Strehl und verweist auf die tatsächlich manchmal düsteren Ölgemälde an den Wänden.

Dass ihm das so gut gelingt, hat mit Innovationsgeist zu tun. So charmant das Jahrhundertwendeflair die betriebliche Hektik ausbremst, so konsequent der Einstieg ins Geschäft mit Computerspielen abgelehnt wird – altmodisch ist bei Piatnik keiner. Die Produktion ist auf dem neuesten Stand, die Warenwirtschaftsplanung basiert auf modernster ERP-Software. Die digitalen Tools werden auch geschickt eingesetzt: Trotz gerissener Lieferketten kennt man bei Piatnik bis heute keine Materialknappheit. „Das Jahr 2022 ist seit Monaten durchgeplant“, so Strehl. Piatnik war auch der erste Spieleverlag mit eigener Website und einem Onlineshop. Die vielen Klassiker im Programm – wie etwa DKT und Activity – belebt man jährlich mit innovativen Varianten neu. So gibt es etwa das uralte kaufmännische Talent (kurz: DKT) im heurigen Jahr als „Das klimaneutrale Talent“, bei dem man nicht gegeneinander spielt, sondern gemeinsam das Klima zu retten versucht. Mehr Zeitgeist geht wohl kaum. Und dieses Trendgespür liefert die entscheidende Tinte, um im jetzt schon so dicken Buch der Unternehmensgeschichte noch einige Kapital dazuschreiben zu können.

„Nicht zerkleckert“

Geschickt umschiffte man auch eine andere Klippe, an der viele Familienunternehmen mit langer Tradition zerschellen: durch Vererbung bis in den Promillebereich zersplitterte Gesellschaftsanteile, die Unternehmen unregierbar machen. Wie hat Strehl die vergleichsweise schlanke Struktur der GmbH und Co KG zusammengehalten? „Es gibt ein Vielfaches an Verwandten und Nachfahren des Firmengründers, als in der Gesellschaft sind. Viele dieser Leute haben aber andere Berufe und Lebensmittelpunkte gefunden, deshalb ist das nicht in 0,5-Prozent-Anteile zerkleckert worden.“ Streng hierarchische Erbregelung gäbe es keine, nur eine Einschränkung: Wer an der Gesellschaft beteiligt sein will, muss Nachfahre des Firmengründers sein. Diese Regelung wird lächelnd präsentiert, wenn wieder einmal ein Großkonzern allzu gierig auf das Erfolgsunternehmen in Hütteldorf schielt. Überhaupt hat man lieber selbst andere übernommen, anstatt mit einem Verkauf zu liebäugeln. Mittlerweile sind aus den einst Hunderten Spielkartenproduzenten in Europa fünf große geworden. Piatnik zählt dazu.

Gemeinschaftsgeist

Die vier anderen sieht man auch nicht unbedingt als Konkurrenz, sondern als Mitbewerb. Gemeinschaft wird überhaupt großgeschrieben: Strehl ist stolz auf die Loyalität der Mitarbeiter, die Stimmung ist gut, die inklusive Auslandsniederlassungen 141-köpfige Familie scheint sich zu verstehen. Kooperation gehört sowieso zum Kerngeschäft. Strehl: „Wir sind ein Verlag. Auch wir verlegen unabhängige

Legende
Piatnik steht in einer Reihe mit Manner, Sacher und anderen Mar kenikonen. Dieter Strehl, der Ururenkel des Gründers, führt das reiche Erbe geschickt in die Zukunft.
Spielend die Welt erobert
Piatnik liefert seine Spielehits in mehr als 70 Länder. Bei Verpackung und Wording wird auf kulturelle Unterschiede Rücksicht genommen.

und eigenständige Autoren. Die schreiben halt keine Bücher, sondern Spiele.“ Mehr als tausend solcher Ideen werden jährlich zugesandt, geprüft, von einer eigenen Spieletester-Community ausprobiert und bei positivem Feedback vom Firmenchef selbst unter die Lupe genommen. 20 davon schaffen es jährlich ins Verlags­programm. Das Zeug zum Klassiker haben nur wenige. Weil, so Strehl: „Wer will schon 50-seitige Spielanleitungen lesen?“ Deshalb kommt die Hälfte des Piatnik-Spiele-Umsatzes von Altbekanntem wie Activity & Co. Schafft es eine Neuheit, internationales Interesse zu wecken, ist wieder Kooperation angesagt: „In anderen Sprachräumen arbeiten wir mit Verlagen vor Ort zusammen. Die haben den Zugang zum Handel und geben uns auch Tipps, welche Worte, Begriffe und Bilder wir bei der Übersetzung verwenden sollten, um erfolgreich zu sein.“

Dies sei gar nicht anders möglich: In der Spielzeugbranche können sich nur Riesen wie dänische Bausteinkonzerne Vertriebsbüros in aller Herren Länder leisten.

„Ich will weitertragen, was über so viele Generationen erfolgreich ist.“

– Dieter Strehl –

Ururenkel von Ferdinand Piatnik