Fahrrad – Schön und schnell

Praktizierende Fans wissen: Das beste Rennrad, Gravel- oder Mountainbike ist nicht nur technisch perfekt, sondern auch so schön und sinnlich, dass man beim Anschauen vor Freude weint. Titan verträgt das alles.  Text: Rupert Streiter

Gefangenheit ist anzumelden: Wenn ein taufberechtigter Priester der Church of Titanrahmen ein paar Fahrräder vor den Vorhang holen soll, dann bleibt Carbon heute eher dahinter. Carbon hält das unbeschadet aus, ihm gehört ohnehin fast der gesamte High-End-Markt, und es wird uns in dieser Geschichte ohnedies in ein paar Nebenrollen begegnen.

Titan hingegen droht schon ein wenig aus dem Fokus zu gleiten, dabei ist es quasi die Schallplatte des Rahmenbaus: war einst die Spitze des technisch Möglichen, war nie richtig weg und hat sich eine Nische erhalten, in der die wahren Fans daheim sind. Titan ist leicht, komfortabel und quasi unverwüstlich, wir wollen an dieser Stelle nicht in die Feinheiten der Materialeigenschaften köpfeln – vor allem deshalb nicht, weil sie in den Kasten auf der nächsten Seite ausgelagert sind. Somit bleibt der Blick frei für die sinnliche Note der Titanrahmen: Das Metall korrodiert erst bei rund 550 Grad Celsius, so schnell glühen auch die eifrigsten Radler nicht. Rahmen aus Titan dürfen also unlackiert bleiben, man kann sie polieren oder ihnen alle Grade der Satinierung anlegen, und Schweißnaht-Connoisseure werden gerührten Auges feststellen: So fein ziseliert wie bei Titan sehen sie nirgends aus – schon gar nicht bei Alu, wo die Schweißraupen oft wirken wie aus der Zahnpastatube gedrückt.

Bei Titan wird die Ästhetik natürlich auch nur vollendet sein, wenn Päpste des Schweißens am Werk waren, aber andere kommen ohnedies nicht so weit: Titan muss unter Schutzgasatmosphäre verschweißt werden, also abseits von Sauerstoff. Derlei macht man nicht nebenbei auf der Werkbank, sondern erst, wenn man die höchsten Weihen der Metallbaukunst erreicht hat.

Nach Maß statt Masse

Es ergibt sich somit ein hübscher Kontrast zur Massenfertigung von Carbonrahmen, und wenn jeder Titanrahmen ohnedies eine teure Einzelanfertigung ist, dann kann man ihn gleich nach Maß herstellen wie einen guten Anzug. Machen manche Hersteller auch, man darf sich dann nach langer Wartezeit und dem Begleichen einer namhaften Rechnung auf einem absoluten Einzelstück lustvoll quälen, auf strenge Kosten-Nutzen-Rechnung pfeifen, sich an der Schönheit blanken Metalls erfreuen und am unerreichten Komfort eines Titanrahmens auch: So smooth fährt sonst nichts, sagen wir im Vollbesitz unserer Verblendung, und die strengen Techniker entwaffnen wir einfach mit dem ersten Theorem der fröhlichen Fahrradspinner: If you love it, it ’s fast.

Wer der Sinnlichkeit von Titan verfallen ist, wird dabei bleiben, man darf sich das ruhig wie eine Hochzeit vorstellen. Wir wollen das jetzt nicht zerreden, sondern einfach nur feststellen: Die Welt dreht sich etwas schöner, seit die britische Firma Speedwell 1973 die ersten Titanfahrräder unter Kundenhintern gerollt hat.

Seither ist viel passiert, Carbonrahmen haben vor einigen Jahren den Markt der High-End-Räder aufgerollt und Titan in eine wohlige Nische geschubst, in der aber auch Platz ist für ein paar Carbonrohre zwischen den Titanteilen. Dann gilt das Phänomen, das Önologen bei Cuvées so schätzen, saloppe Kurzfassung: Jedes Material bringt seine besten Eigenschaften in die Mischung ein, und wenn das Rad doch einmal umfällt, dann lieber auf  die Segmente aus Titan. Wir wissen schon, die Unverwüstlichkeit.

Bei Bastion Cycles kommen die Titanmuffen aus dem 3D-Drucker, die Rohre dazwischen sind aus Titan oder Carbon.

Kleine Auswahl gefällig? Aber gerne.

Zu den Titanpionieren zählt Moots aus Steamboat Springs, Colorado: Die Fahrräder mit dem Rad fahrenden Krokodil am Logo – erfunden am Ende einer Firmenfeier? – sind Kult, seit 1991 die ersten Modelle geschweißt wurden, später hat Moots den Trend der Gravelbikes ziemlich massiv mit erfunden.

Merlin aus Cambridge, Massachusets, versorgte mit seinen ersten Mountainbikerahmen gleich den damaligen US-Champion Joe Murray, wenig später etablierte die Firma die s-förmig gebogenen Hinterbaustreben, sie sollten künftig von praktisch allen Fahrradmarken kopiert werden. Heute baut Merlin Metalworks praktisch ein volles Sortiment an Fahrradtypen.

Rohr-Schach

Die Lynskey-Familie erfreute mit ihren Litespeed-Titanbikes seit 1986 und damit auch ziemlich früh die Fahrrad-Feinspitze, aber als Familienvater Bill Lynskey 1997 verstarb, wurde auch bald darauf die Firma verkauft – was die Lynskey-Söhne nur bis 2005 durchhielten: Seit damals fertigen sie unter ihrem Familiennamen zum Beispiel auch Rahmen mit helixähnlich gewundenen Rahmenrohren. Kann technische Vorteile haben, erfreut aber in jedem Fall psychologisch das Wadel.

Nach mehreren anmutigen Pausen ist auch Ben Serotta wieder im Geschäft. Sagen die heutigen Eigentümer der gleichnamigen Firma, aber Ben soll als Elder Statesman noch immer jeden Entwurf absegnen, es wird ja dann auch sein Name draufstehen. Seven Cycles feiert soeben seine ersten 25 Jahre und 35.000 nach Maß gefertigte Titanrahmen, wobei da auch ein paar Tausend mit Carbonsegmenten dabei sind – wer die Titanelemente besonders kunstvoll oder sogar ein wenig barock gestaltet haben mag, wird natürlich erhört.

Allerfeinste Kunstwerke sind auch die Rahmen von Bastion Cycles aus Australien: Dort kommen die Titanmuffen aus dem 3D-Drucker, die Rahmenrohre sind aus Carbon, jede Art von Lack oder Lasur ist möglich, jeder Preis natürlich auch: Rund 20.000 Euro sind ohne Federlesens drin, Import aus Australien noch nicht mitgerechnet.

Die Postmoderne

Nur rund die Hälfte kostet das Reilly Fusion, mit dem Reilly Cycleworks aus Großbritannien soeben den Titanrahmen in eine neue Zukunft führt:  Gegossene Titanteile werden mit erlesenen und hydrogeformten Rohren verschweißt, damit werden Formen möglich, die man nur Carbon zugetraut hätte.

Natürlich wird man all diese Räder, so man sich selbst damit erfreut, nicht in den Fahrradkeller stellen, sondern wie ein
edles Gemälde an die Wand hängen und hie und da davor vor Freude weinen.

Wie gesagt, es ist keine ganz objektive Geschichte.   ←

Facts

Kleine Materialkunde

Warum Titan?

Titan ist halb so schwer wie Stahl, aber auch nur halb so steif. Theoretisch müssten die Rohre eines Titanrahmens also doppelt so dick sein, damit wäre der Gewichtsvorteil wieder dahin. Der Ausweg aus diesem Dilemma führt über Rahmenrohre von größerem Durchmesser, aber geringerer Wandstärke – würde Stahl beim Gewicht mithalten wollen, dann wären die Wandstärken bereits zu gering für ausreichende Stabilität.

Aluminium hat zwar ein ähnliches Verhältnis von Dichte zu Steifigkeit wie Titan, da müssen die Wandstärken der Rohre aber aus Sicherheitsgründen etwas üppiger bleiben: Aluminium altert deutlich schneller, und es bricht bei Verformungen leichter. Daher sind Reserven nötig.

Nur der Vollständigkeit halber: Carbon kann natürlich alles besser, was in Zahlen zu messen ist, aber wir schieben die kühlen Zahlen heute ein wenig beiseite.