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Greenflation: Klimaneutralität als Inflationstreiber?

Die Verbraucherpreisinflation hat im vergangenen Jahr auf breiter Front deutlich zugenommen und das Thema Greenflation noch stärker ins Zentrum der Diskussion gerückt. In den Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) stieg die Inflation im Februar 2022 auf 7,7 Prozent – ein Höchststand seit November 1990 und deutlich über der Talsohle von 0,7 Prozent während der Pandemie im Mai 2020.

Am einfachsten lässt sich die aktuelle Greenflation durch die Betrachtung der Energieinflation beurteilen. Energiekosten machen einen geringen Anteil des Warenkorbs für den Verbraucherpreisindex (VPI) aus, der sich in den OECD-Ländern 2020 zwischen fünf und 16 Prozent bewegte. In der Regel leisten sie jedoch aufgrund ihrer ausgeprägten Volatilität größere Beiträge zur Gesamtinflation. Dies war auch während der niedrigeren, weniger volatilen Inflationsziele, die seit Mitte der Neunzigerjahre vorherrschten, noch der Fall. In diesem Zeitraum pendelte die Energie-Verbraucherpreisinflation des OECD-Raums zwischen -18 und +28 Prozent gegenüber dem Vorjahr und stach damit als Hauptvolatilitätstreiber der Gesamtinflation hervor.

Der Dominoeffekt höherer Energiepreise

Energiepreisschwankungen sind in der Regel von kurzer Dauer und gefolgt von einer Rückkehr zum Mittelwert. Allerdings können sie sich auf andere Sektoren auswirken und einen tiefgreifenderen, langfristigeren Effekt auf die allgemeine Inflation haben. Seit Mitte der Neunzigerjahre weist die Ölpreisinflation eine Korrelation zur Lebensmittelpreisinflation im OECD-Raum auf. Dies ist nicht überraschend, da Energie ein wichtiger Input-Faktor für den Sektor ist. Im Gegensatz dazu war die Korrelation zwischen der Ölpreisinflation und der VPI-Kerninflation im OECD-Raum (Energie- und Lebensmittelpreise ausgenommen) minimal. Dies spiegelt möglicherweise die dominanten Auswirkungen wider, die andere Faktoren wie Globalisierung und Automatisierung auf die Inflation haben.

Verstärken höhere Energiepreise die Inflation?

Vorübergehende Bewegungen der Energiepreise können sich auf andere Weise auf die allgemeine Inflation auswirken. So kann sich energiepreisbedingt niedrige oder hohe Inflation über Zweitrundeneffekte verfestigen. Mit anderen Worten: Es geht hier um die Frage, ob und in welchem Ausmaß sie sich auf die langfristigen Inflationserwartungen und/oder die Lohnentwicklung auswirkt. Darüber hinaus führen steigende Energiepreise zwar unmittelbar zu höherer Inflation, bringen jedoch auch Einkommensschocks mit sich, die letztlich geringere Inflation nach sich ziehen können. Durch Kostendruck verursachte Inflation löst sich in der Regel von allein auf, da sie zu einem Verfall der Realeinkommen und geringerer gesamtwirtschaftlicher Nachfrage führt.

In den letzten zehn Jahren hatte das Narrativ von der Greenflation die Tendenz, sich abhängig vom Anstieg oder Rückgang der Ölpreise zu verändern. Zwischen 2014 und 2016 fiel der Preis für die Rohölsorte Brent um 76 Prozent vom Hoch- zum Tiefpunkt. Der wichtigste Treiber war hier auf Angebotsseite angesiedelt: Saudi-Arabien erhöhte bewusst das Angebot, um mit höheren Förderkosten konfrontierte US-Schieferölproduzenten unter Druck zu setzen. Auch andere Faktoren wie die schwächere chinesische Nachfrage und Konkurrenz durch erneuerbare Energien fanden Erwähnung. Das vorherrschende Narrativ war also, dass der Übergang zur Klimaneutralität durch seine Auswirkungen auf die Energiekosten für Deflationsdruck sorgen würde.

Wirft man einen Blick auf die Situation in den Jahren 2021 und 2022, ist bei den Energierohstoffpreisen seit etwa Mitte 2020 nach der akuten Phase der Pandemie ein deutlicher Aufwärtstrend zu beobachten. Stand Mitte März 2022 lagen die Ölpreise mehr als 50 Prozent über dem Niveau Anfang 2020. Im Februar 2022 betrug die Energie-Verbraucherpreisinflation im OECD-Raum entsprechend 27 Prozent. Die Energieinflation hat ganz allgemein stark zur Gesamtinflation beigetragen. So waren ihr im Februar 2022 fast 25 Prozent der Gesamtinflation in den USA und fast 60 Prozent in der Eurozone zuzuschreiben.

Inflationsfaktoren: Das Gesamtbild im Blick behalten

Der Übergang zur Klimaneutralität ist nur ein Faktor in einem weit komplexeren Gefüge treibender Faktoren für die Inflation. Hierzu zählen unter anderem pandemiebedingte Angebots- und Nachfrageverzerrungen, mangelnde Investitionen in Energiequellen, die als Puffer für den Übergang von fossilen zu erneuerbaren Energien dienen, höhere Gasnachfrage aus China und (ein ganz entscheidender Punkt) geopolitische Spannungen – jüngst etwa der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Zusammengefasst lässt sich festhalten: Der Übergang zur Klimaneutralität hat wahrscheinlich zum jüngsten Anstieg der Energiepreisinflation beigetragen – neben anderen und vermutlich weit bedeutenderen Treibern dieser Entwicklung. In diesem komplexen Gefüge, in dem mehrere aufeinander einwirkende Faktoren zusammengetroffen sind, lässt sich nur schwer genau bestimmen, welchen Beitrag die Greenflation zur aktuellen Inflation leistet.

Grüner Wandel: Erneuerbare Energiequellen lösen fossile Energieträger ab

Künftig dürften fossile Energieträger günstigeren und effizienteren Energiequellen weichen. Langfristig wird der Übergang zur Klimaneutralität geringere Energiekosten bewirken. Diese Kosten sind innerhalb relativ kurzer Zeit bereits stärker zurückgegangen als erwartet, da die Investitionen in neue, umweltfreundlichere Technologien in den letzten zehn Jahren zugenommen haben.

In der Übergangsphase dürfte das Energiepreisniveau aller Wahrscheinlichkeit nach volatil sein und der grundlegende Abwärtstrend mit Spitzen und Einbrüchen einhergehen. Der Innovationsprozess dürfte vermutlich nicht linear verlaufen und wird von Anlageentscheidungen abhängen, die wiederum auch von politischen Beschlüssen beeinflusst werden. Während der langfristige Trend nach unten zeigt, ist es unwahrscheinlich, dass der Übergang von fossilen zu erneuerbaren Energieträgern reibungslos ablaufen wird – besonders, wenn er schlecht gehandhabt und verzögert wird. Auf dem Weg dürfte es zu einem Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage und sonstigen Verwerfungen kommen, die sich in volatilen Energiepreisen und Inflations-/Deflationsschüben niederschlagen. Dies verdeutlicht, wie wichtig es ist, den Übergang durch länderübergreifende Koordination sowie die Verständigung zwischen politischen Entscheidungsträgern und Interessengruppen möglichst reibungslos zu gestalten.

Einstweilen dürften die Preise anderer für einen erfolgreichen „grünen Wandel“ erforderlicher Rohstoffe wie Lithium und Kupfer aufgrund der wachsenden Nachfrage in den kommenden Jahren steigen, was sich unter Umständen als bedeutenderer Faktor künftiger Greenflation erweisen könnte.

Die hier vertretenen Ansichten und Meinungen sind die des Verfassers. Dieser Marktkommentar ist weder eine Aufforderung noch ein Angebot zum Kauf oder Verkauf der darin erwähnten Wertpapiere oder Finanzinstrumente