Kunst – Der späte Triumph der Surrealistinnen

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Leonora Carringtons „Les Distractions de Dagobert“ sorgte im Mai bei Sotheby’s New York für einen Rekord: Ein heftiges Bietergefecht endete erst bei 28,5 Millionen Euro.

Der Surrealismus war lange geprägt von ikonischen männlichen Künstlern wie Miró, Magritte oder Dalí. 100 Jahre später treten die weiblichen Pionierinnen dieser Kunstrichtung einen Siegeszug an. 
Text: Eva Komarek

Ein surrealistisches Gemälde von Leonora Carrington schrieb bei Sotheby’s bei den Frühjahrs­auktionen im Mai in New York Ge­schichte. Das Werk wurde nach einem zehnminütigen Bietergefecht für 28,5 Mil­lionen Dollar verkauft und stellte damit einen neuen Auktionsrekord für die bri­tische Künstlerin auf.

Der bisherige Höchstpreis lag bei 3,3 Millionen Euro. Das Gemälde „Les Distractions de Dagobert“ aus dem Jahr 1945 war der Star der Abendauktion moderner Kunst. Geschätzt war es auf zwölf bis 18 Millionen Dollar. Damit gehört Carrington nun zu den fünf teuersten Künstlerinnen auf dem Auktionsmarkt. Beim Surrealismus belegt sie Platz vier und hat bedeutende Künstler wie Max Ernst und sogar Salvador Dalí hinter sich gelassen. Gekauft hat es der argentinische Bauunternehmer und Geschäftsmann Eduardo F. Costantini, der Gründer des Museums Lateinamerikanischer Kunst in Buenos Aires. „Es ist ein großartiges Werk in der Geschichte des Surrealismus“, sagte Costantini. „Ich war vor 30 Jahren der Unterbieter für dieses Bild, und ich wollte es mir diesmal nicht entgehen lassen.“

Carrington ist nur eine von vielen weiblichen Surrealistinnen, die in den letzten Jahren mit der zunehmenden Anerkennung einen starken Preisanstieg erleben. So wurden bei der Auktion der Moderne auch für andere Künstlerinnen der Kunstrichtung starke Ergebnisse erzielt, etwa Remedios Varos „Esquiador (Viajero)“ stieg auf 4,2 Millionen Dollar, (der obere Schätzpreis lag bei 1,5 Millionen Dollar) oder „Le Train“ von Leonor Fini, geschätzt auf 200.000 bis 300.000 Dollar, stieg auf 444.5000 Dollar.

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Leonor Fini: Ihr Bild „Le Train“ wurde auf 200.000 bis 300.000 US-Dollar ­geschätzt. In der Auktion erzielte es 444.500 Dollar.
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Meret Oppenheim (1913–1985): Tisch mit Vogelfüßen.

Mehr als nur Musen

Surrealistinnen teilen das Schicksal vieler Künstlerinnen wichtiger historischer Kunstbewegungen: Sie wurden die längste Zeit übersehen oder unterschätzt. So war auch der Surrealismus lange von ikonischen männlichen Künstlern wie Joan Miró, René Magritte oder Salvador Dalí geprägt. Von Beginn an gab es aber auch eine bedeutsame Anzahl an Protagonistinnen, doch wurden sie auf die Rolle als Muse, Modell oder Liebhaberin beschränkt. Erst dank wegweisender internationaler Ausstellungen der letzten Jahre wurden auch die Surrealistinnen für ihre eigenständigen und selbstbewussten künstlerischen Beiträge anerkannt. Die Neubewertung der weiblichen Positionen ist nicht zuletzt Kuratorinnen wie Cecilia Alemani zu verdanken. In Ausstellungen wie „The Milk of Dreams“ bei der Bien­nale von Venedig 2022 wurden zeitgenössische Künstlerinnen neben Surrealistinnen wie Jane Graverol, Eileen Agar, Dorothea Tanning, Leonor Fini und Leonora Carrington präsentiert. Bereits 2020 widmete die Frankfurter Schirn Kunsthalle den Vertreterinnen dieser Kunstrichtung eine Ausstellung mit dem Titel „Fantastische Frauen“. „Zahlreiche internationale Ausstellungen haben sich in jüngster Zeit mit Neuinterpretationen des Surrealismus beschäftigt und dabei zu Recht die Pionierinnen der Bewegung hervorgehoben. Dazu gehören ‚Surrealism Beyond Borders‘ im Metropolitan Museum in New York und in der Tate Modern in London, ‚Surrealism and Magic: Enchanted Modernity‘ in der Peggy Guggenheim Collection in Venedig und der Titel der Bien­nale von Venedig 2022, der sich direkt auf Leonora Carringtons Kinderbuch ‚The Milk of Dreams‘ bezog“, sagt Olivier Camu, De­puty Chairman Impressionist and Modern Art beim Auktionshaus Christie’s. Das Auktionshaus veranstaltet seit Jahren eigene Surrealismus-Auktionen. 2023 versteigerte Christie’s etwa die „Memory of a Surreal Journey: Property from an Important San Francisco Bay Area Collection“, die von Künstlerinnen wie Remedios Varo und Leonora Carrington geprägt war. „In diesem Jahr boten wir eine Dada-Collage von Hannah Höch aus einer angesehenen Privatsammlung, ein einzigartiges Objekt von Meret Oppenheim und eine weitere bedeutende Varo aus derselben Sammlung der San Francisco Bay Area an“, so Camu. Tatsächlich erzielte bei der Auk­tion am 7. März in London Höchs Collage „Das schöne Mädchen“ von 1920 einen neuen Rekordpreis von 453.600 Pfund und konnte den oberen Schätzpreis von 180.000 Pfund mehr als verdoppeln. Auch Oppenheims Tisch mit Vogelfüßen ließ die obere Taxe von 200.000 Pfund weit hinter sich und stieg auf einen neuen Höchstpreis von 529.200 Pfund.

Unterstützt wird die preisliche Entwicklung heuer vom Hundert-Jahre-Jubiläum des Surrealismus, das die Kunstbewegung generell wieder stärker ins Rampenlicht rückt. 1924 veröffentlichte André Breton das erste surrealistische Manifest, das nicht nur den Beginn einer künstlerischen Bewegung markierte, sondern auch die Grundlage für eine revolutionäre Veränderung in der Kunstwelt bildete. Mit der Ausrufung des Surrealismus wurde eine Ära eingeleitet, die die Grenzen des Rationalen überschritt und das Unbewusste als Hauptquelle der Inspiration betonte. Dieses Manifest war eine klare Abkehr von den gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen und ermutigte Künstler dazu, ihre Träume, Fantasien und Emotionen in ihre Werke einzubeziehen.

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Hannah Höch (1889–1978): Das schöne Mädchen.
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Remedios Varo, Esquiador (Viajero) wurde 2023 bei Christie’s versteigert.

Starke Nachfrage

Auf surrealistische Malerinnen zu setzen, ist ein gutes Investment. Weibliche Kunst befindet sich generell in einem Aufholprozess, davon profitieren auch die Surrealistinnen. Das belegt auch eine Ende 2023 publizierte Analyse der Kunstpreisdatenbank Artnet in Kooperation mit Morgan Stanley. Analysiert wurden Auktionen dieses Segments über die letzten zehn Jahre von 2013 bis Ende Oktober 2023. Es zeigte sich, dass die Künstlerinnen in diesem Zeitraum eine enorme Aufholjagd hingelegt haben. So lag im Jahr 2013 der durchschnittliche Verkaufspreis für ein Werk einer Surrealistin bei 35.098 Dollar, verglichen mit 72.273 Dollar für ein Werk eines männlichen Vertreters. 2021 erfolgte ein gewaltiger Sprung auf 167.263 Dollar, im Jahr darauf pendelte sich der Durchschnittspreis auf 84.339 Dollar ein. 2021 schaffte es auch erstmals eine Künstlerin unter die Top 20 der Surrealisten. Frida Kahlos „Diego y yo“ brach mit 34,9 Millionen Dollar inklusive Aufgeld mehrere Rekorde. Neben dem Rekord für die Künstlerin wurde es auch das teuerste Werk eines lateinamerikanischen Künstlers