Synthetischer Biopionier: Der Wissenschaftler George Church hat mehr als 20 Unternehmen gegründet.

Gentechnik – Frankensteins Erben

Die Menschheit könnte das Wollmammut wieder auferstehen lassen, Pflanzen hitzeresistenter machen und die Individualmedizin auf ein nie da gewesenes Level heben. In der synthetischen Biologie ist heute möglich, was vor zehn Jahren noch undenkbar war – und sie ist ein 30 Billionen Dollar schwerer Markt.  Text: Susanne Mayer

Zu beschreiben, was synthetische Biologie alles kann und ist und was nicht, füllt Seiten, Bücher und seit einiger Zeit auch Hörsäle und Diskussionsforen – von der Uni bis zum Europäischen Parlament. Die synthetische Biologie könnte irgendwann die komplette Viehhaltung abschaffen, ohne dass die Menschen auf ein Stück Fleisch auf ihrem Teller verzichten müssten. Sie könnte dazu führen, dass Plastik bald der Vergangenheit angehört und genetische Erkrankungen erkannt und unschädlich gemacht werden, bevor sie ausbrechen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die DNA, die den genetischen Code beinhaltet, der die Funktionsweise von Organismen steuert. Sie kann mittlerweile entschlüsselt und adaptiert werden, um gewünschte Prozesse in Zellen anzuregen und andere zu eliminieren. Die synthetische Biologie geht über die traditionelle Genetik hinaus, indem sie nicht nur bestehende Organismen studiert, sondern auch neue biologische Bausteine, Teilsysteme und Organismen entwirft und konstruiert. Sie zielt darauf ab, biologische Systeme nach menschlichem Ermessen zu gestalten und auf  innovative Weise zu nutzen. Und dank künstlicher Intelligenz steht sie heute vor ihrem Goldenen Zeitalter.

Wenn Wissenschaft zum Geschäft wird

Geschäftswelt und Wissenschaft existieren oft nebeneinander statt in fruchtbarer Symbiose. Ein Pionier, der beide Welten mit Forschergeist und ausgeprägtem  Geschäftssinn miteinander verbindet, ist George Church. Der Professor an der Harvard University und Mitbegründer zahlreicher Biotechnologieunternehmen gilt als Schlüsselfigur in der Welt der synthetischen Biologie. Church hat an der Entschlüsselung des menschlichen Genoms mitgearbeitet und schließlich seine eigene DNA zur Verfügung gestellt, um sie auswerten zu lassen. Heute hält der Professor mit dem Rauschebart über 60 Patente für die Tätigkeiten von über 20  Firmen. Sein Interesse gilt dem Schutz bedrohter Arten ebenso wie dem Eingriff in altersbedingte Krankheitsverläufe. Mit Nebula Genomics will Church die Dekodierung menschlicher DNA weite Bevölkerungsschichten öffnen, um genetische Veranlagungen für Erkrankungen, Unverträglichkeiten oder die eigene Abstammung zu untersuchen. Das Ziel: persönliche Präzisionsmedizin, leistbar für alle.

Einmal Vollanalyse, bitte

Kritik an Church wurde laut, weil Nebula genauso wie Veritas Genetics, eine weitere Firma des Forschers, im Gegensatz zu anderen Anbietern nicht nur relevante Gensequenzen betrachtet, sondern das komplette Genom analysiert. Das Ziel von Churchs Komplettanalyse ist das Senken des Preises, um seltene Erbkrankheiten besser zu eliminieren. Deren Behandlungskosten lasten bisher auf dem Rücken einiger weniger Betroffener. Die Rechnung geht auf: Die erste Sequenzierung in der wissenschaftlichen Studie des Genome Project kostete drei Millionen Dollar. Church bot die erste kommerzielle Sequenzierung 2007 um 350.000 Dollar an. Heute kostet sie 300. Und soll auf unter 100 fallen. Kryptografische Verschlüsselung soll maximalen Datenschutz garantieren. Waren persönliche und werberelevante Daten die Währung der vergangenen zehn Jahre, sind es in Zukunft genetische Daten. Das potenzielle Marktvolumen synthetischer Biologie beziffert die Boston Consulting Group mit 30 Billionen Dollar – und das umfasst nur den Einsatz in der Fertigungsindustrie, nicht die Gesundheits-, die Mode- und die Textilindustrie, die genauso von den Innovationen betroffen sein werden, wie es die Ernährungs-, die Pharma- und die Schönheitsindustrie bereits seit einigen Jahren sind.

Aussterben war so 2018

In den Schlagzeilen war der Gen-Pionier George Church zuletzt, weil er mit seiner Firma Colossal Biosciences Gensequenzen des Wollmammuts in das Genom  asiatischer Elefanten einsetzen und die Tiere damit winterhart machen wollte. Sein Ziel: nicht etwa das Mammut in schnöder Jurassic-Park-Manier wieder auferstehen zu lassen, sondern mit einigen Hunderttausend der kälteresistenten Elefanten die arktische Tundra zu bevölkern, um das Klima zu retten. Gestampftes Eis schützt den Permafrostboden vor dem Tauwetter, das bei anhaltend hohen Temperaturen für einen Austritt des Treibhausgases Methan sorgen wird – das 30-mal so potent ist wie CO. 225 Millionen Dollar an Investments hat Colossal bereits aufgestellt. Nicht allen schmeckt das.

Frankensteins Tomaten

Wie der Asiatische Elefant über die Mutationsfantasien denkt, ist nicht bekannt. Die synthetische Biologie ist heute jedenfalls das Schweizer Taschenmesser für komplexe Probleme, für deren Lösung es bisher nur einen Hammer gab. So schafft es die Genschere CRISPR, an deren Entwicklung auch George Church maßgeblich beteiligt war, neue Informationen in das Genom von Organismen zu schleusen, um gewünschte Effekte hervorzurufen. Was beim konzeptionellen Mammufanten ein dichtes Fellkleid gegen Kälte und kurze Stoßzähne gegen den Tod durch Wilderer bedeutet, heißt bei Tomatenpflanzen etwa starkes Wurzelwachstum für mehr Hitzeresistenz oder Widerstandsfähigkeit gegen gewisse Pilzarten. Wer an Frankenstein denkt, hat nicht ganz unrecht. Hybride Lebewesen werden dadurch möglich. Nur: Das passiert schon lange. Bei der Xenotransplantation wird das Tier zum Ersatzteillager für den Menschen. Herzen und Nieren vom Schwein sollen die langen Wartezeiten auf Spenderorgane deutlich verkürzen und werden bereits heute mit bisher gemischten Ergebnissen in Menschen verpflanzt. Die synthetische Biologie soll dafür sorgen, dass entnommene Organe außerhalb des Wirtskörpers länger am Leben bleiben.

Die Sache mit der Ethik

Das Aufspüren von Erbkrankheiten, der Schutz bedrohter Arten und ein längeres (Menschen-)Leben dank tierischer Ersatzteile – all das klingt grundsätzlich positiv. Die Frage nach der ethischen Grundlage der von Church vorangetriebenen Technologien stellt sich deswegen trotzdem. Wird das „Erfinden“ neuer Organismen oder Tierarten die natürliche Population mit seinem optimierten Genpool bedrohen oder gar zum Aussterben bringen? Wem gehören veränderte Organismen? Sollen Kinder wie schon in Aldous Huxleys dystopischer Brave New World im Reagenzglas je nach Bedarf für die Unter-, Mittel- oder Oberschicht gezüchtet werden oder soll eine Art menschliche Superrasse entstehen, die gegen Krankheitserreger, Krebs, vielleicht sogar gegen das Altern immun wäre? Ethikräte und Wissenschaft sind sich einig: Nichts von dem soll passieren. Die Gefahr eines weltweiten Euthanasieprogramms für Menschen mit Behinderungen besteht genauso wenig, wie das Ausrotten indigener und ursprünglicher Tier- und Pflanzenarten jemals das Ziel sein wird. „Das Existierende sträubt sich grundsätzlich gegen Veränderung“, sagt die Protagonistin Cya in Ilija Trojanows neuem Roman „Tausend und ein Morgen“. Die Wissenschaft nennt dieses Phänomen den Status Quo Bias: Was ist, hat einen Vorteil gegenüber dem, was sein könnte. George Church nennt es in einem Interview mit „The AI Health Podcast“ Nostalgie. Menschen präferieren das Natürliche. „Nur definieren sie Natürlichkeit nicht über den Zustand von vor 20.000 Jahren, sondern über die Technologien, die ihren Großeltern zur Verfügung standen.“

Ziel von Church und seinen Kollegen  sei es nicht, die Menschheit in die Unsterblichkeit zu führen, sondern die gesunden Lebensjahre zu steigern und so altersbedingte Erkrankungen und deren Folgen zu verhindern. Eine logische Konsequenz aus seiner Forschung sieht Church übrigens im automatischen Genpool-Matching auf Datingplattformen: „Wenn die Entwicklung weiterhin Richtung Abtreibungsgegnerschaft geht, wird es wichtig sein, sich schon vor dem Festlegen auf einen Partner die Frage zu stellen: Welche Genpools haben eine möglichst hohe Chance auf gesunden Nachwuchs? Der Algorithmus erledigt den Rest.“

Verhaftet im Gestern Zurzeit wird auf EU-Ebene heftig über Regulatorien der synthetischen Biologie gestritten. Gegenstand sind Forschungsbemühungen zur Behandlung von landwirtschaftlichen Pflanzen, um sie etwa gegen vom Klimawandel verursachte  Hitzeperioden resistenter zu machen. In den USA ist diese Art der Gentechnologie erlaubt, in Europa setzt man sie mit der  alten Gentechnik der 90er-Jahre gleich, die wenig Treffsicherheit aufwies und mehr unerwünschte Nebeneffekte hatte. Akteure wie Global 2000 laufen gegen die Entwicklungen Sturm. Die Deutsche Gesellschaft für Synthetische Biologie und mit ihr über 100 Forschungseinrichtungen sowie Akteure aus Industrie und Zivilgesellschaft halten seit 2019 dagegen und fordern eine Diskussion, die den aktuellen Stand der Forschung würdigt. Man fürchtet sich zu Tode und beschwert sich doch, dass andere mutiger sind und auch wirtschaftlich davon profitieren. Dass es Regularien braucht, wissen auch die Wissenschaftler aus den USA. Die Frage sollte also nicht sein, ob die da drüben mit der größeren Schaufel spielen dürfen, sondern ob wir mitspielen wollen.