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Atlas der digitalen Welt

Zwei Wissenschaftler vermessen das Internet

Ein Blick zurück in die Neunziger: Hemden und Anzüge waren bequem geschnitten, Ostöffnung und EU-Beitritt beflügelten die Industrie, viel Geld zu verdienen, war angesehen und machte Spaß. Zumal neue Technologien den Arbeitsalltag deutlich erleichterten: Kopien wurden bunt, Telefone mobil, kreischende Nadeldrucker obsolet. Und dann verwandelte ein ulkig piepsendes Modem den mittlerweile üblich gewordenen Heim-PC in ein Fenster zur Welt: Das Internet setzte zu seinem Siegeszug an. Schnell bekam es eine periodisch erscheinende Bibel namens „Wired“, in der die Segnungen der neuartigen und grenzenlosen Vernetzung in philosophisch anmutendem Kontext bejubelt wurden. Das Internet sei das Werkzeug der Demokratie, das Tool zur Gleichberechtigung, die Globalisierung des KMU, das fortan auf Augenhöhe mit dem multinationalen Konzern operiere. Gut, damals schrieb der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama auch vom „Ende der Geschichte“.
Einen Cambridge-Analytica-Skandal später ist im Zusammenhang mit dem Begriff Internet nur mehr selten von Segensreichtum die Rede. Auch die Pioniere gibt es nicht mehr: Junge Menschen vermuten hinter Altavista eher ein Skidorf in den Dolomiten als die erste Volltext-Such­maschine. Was blieb, sind internationale Riesen wie Google (bzw. Alphabet), Apple, Amazon und Facebook, manche mit interessanter Steuerpolitik, alle mit deutlicher Neigung zur Sammlung von Daten. Me­dienwissenschaftler Martin Andree und Data-Analytics-Experte Timo Thomsen haben jetzt zurückgeschlagen – und erstmals selbst eifrig Daten gesammelt und daraus einen Atlas der digitalen Welt gezeichnet. Und damit eine erschreckende Tatsache bewusst gemacht: Die Internet-Giganten wissen zwar alles über uns, die User – aber wir wissen erschreckend wenig über das Internet. Klar: Es gibt eine Menge Daten und Analysen, Informationen und Statistiken. Aber im falschen Kontext. Oder völlig zerstreut und nicht verknüpfbar.
Der Atlas der digitalen Welt bietet erstmals einen ganzheitlichen Überblick über das echte Nutzungsverhalten. Auf Basis der qualitativ hochwertigsten Daten kartografieren die beiden Autoren das Internet – Anbieter und Nutzer, Inhalte und Traffic, Marktrelevanz, Nutzeraktivitäten, Endgeräte. Wie viel mediale Aufmerksamkeit decken Google, Facebook und Co. ab? Welche Bedeutung besitzen News, Search, Gaming, Einkaufen, Politik, Pornografie etc.? Bislang gab es nur eine unbeherrschbare Datenflut. Ab jetzt gibt es Antworten.

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Etwa zur Größe von Google. Klar: Die Umsätze sind leicht eruierbar – auch über die Suchmaschine selbst. Aber wie groß ist die Macht innerhalb des „digitalen Universums … Wie groß ist eigentlich die Suchmaschine von Google im Verhältnis zu Google Maps, im Verhältnis zu Gmail?“, fragen die Autoren. Warum sind TV-Reichweiten und YouTube-Zugriffe nicht vergleichbar? Erfreulich an diesem Buch ist, dass es auch für Leser geeignet ist, die nicht der an Fachbegriffen reichen Sprache der Social-Media-Experten mächtig sind. Unerfreulich ist, dass sich die Zahlen nur auf Deutschland beziehen. Aber ist Österreich tatsächlich anders? Pessimisten könnten nach der Lektüre sagen: Früher waren Dystopien Science-Fiction. Heute sind sie ein Sachbuch. ←