Auto – Stil kann man nicht lernen

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Pininfarinas Jubel anlässlich 60 gemeinsamer Jahre mit Ferrari: Ferrari Pininfarina Sergio Concept, 2013 präsentiert und 2014 in sechs Exemplaren gefertigt. Preis: je drei Millionen Euro.

Aber zeichnen: Bei Pininfarina entstanden unser aller Straßenbild, Sonderkarosserien und Cabriodachsysteme für andere Marken und bisweilen auch Autos für die eigene, und nach drei Generationen als Familienbetrieb brach eine neue Ära an. Eine irgendwie indische. 
Text: Rupert Streiter

Wo hebt eine Hommage auf eine der führenden automobilen Kulturinstitutionen Italiens am besten an, und wie spannt man den Bogen über fast 100 Jahre? Über drei Generationen Pininfarina mit allerlei Verästelungen, eine Legion von Designern, die dort anonym Kunstwerke zuerst zu Papier und dann zu Blech brachten, um schließlich selbst berühmt zu werden und von den besten Automarken hofiert?

Vielleicht mit einem Sprung mitten in die Firmengeschichte, zum Beispiel: Im September 1955 war mit einem Schlag das Straßenbild der nächsten 15 Jahre vorgezeichnet. Das war damals keine leichte Sache, immerhin fuhren noch immer Autos mit Vorkriegsstromlinien von den Bändern (VW Käfer, Peugeot 203, DKW 3=6), die Pontonform war jung und stand gut im Futter, die ersten Heckflossen knospten, und die schlichte Sachlichkeit der Schachtelform war auch nicht mehr allzu weit entfernt.

Beim Turiner Autosalon 1955 aber enthüllte Pininfarina den Lancia Florida auf Basis der Aurelia, schon die technische Basis ein Gesamtkunstwerk, mit dem ersten in größerer Serie produzierten V6 der Automobilgeschichte. Der Florida kam ansatzlos und parkte sofort als Paradigmenwechsel im Automobildesign: Die aus einem Guss gerundeten Karosserien waren plötzlich ziemlich alt, jetzt gruppierte sich das Styling aus kontrastierenden Flächen zur Harmonie der neuzeitlichen Gegenschwünge, wissenschaftlicher kann man das nicht formulieren. Die Auftragslage brummte, und bald war der Name der neuen Designrichtung flügge: Trapezlinie. Wer einem der Entwürfe auf die Silhouette schaute, musste nicht mehr lange um die Herleitung rätseln. Natürlich hätte die Durchdringung des Straßenbildes nicht so geschmeidig funktioniert, hätte Pininfarina seinen Entwurf nicht an mehrere Firmen verkauft:

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BMC 1800 Aerodinamica, 1967: Die British Motor Corporation griff nicht zu, aber etliche andere Hersteller kopierten die Linie.
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Lancia Flaminia Coupé, direkter Nachfahre des Florida II. Der wiederum war Pininfarinas Privatauto – und jenes, „das ich in den Himmel mitnehmen würde“.

• Der Lancia Florida tröpfelte in handverlesener Zahl aus dem Werk, an der Flaminia kam der Entwurf schon etwas öfter auf die Straße.

• Ab 1960 war die Trapezlinie am Peugeot 404 unterwegs, und das so erfolgreich, dass das Auto trotzig bis 1975 gefertigt wurde, dann allerdings schon als Gruß aus einer anderen Welt. Und für eine andere, denn in Nordafrika wurde der Peugeot 404 bis 1989 gebaut – so war er dort noch in den späten 90er-Jahren ein vertrauter Anblick, dann übernahm der 504. Ein Pininfarina-Entwurf natürlich auch er.

• Ähnlich lang und dort auch breitlebig war die Trapezlinie bei der British Motor Corporation BMC: Mit unterschiedlichen Grills, Interieurs und dezent anderen Heckflossen war das gleiche Auto von 1959 bis 1971 als Austin Cambridge, Morris Oxford, Wolseley 15/60 und 16/60, MG Magnette Mk III und Riley 4/72 zu haben.

• Bei Fiat lebte der sehr ähnliche Entwurf als 1800, 2100 und 2300 von 1959 bis 1968, auch nicht schlecht.

Die stilistische Treffsicherheit Pininfarinas kam aus einer gut berechneten Souveränität: Die vierrädrige Provokation oder verspielten Barock überließ der Meister gerne anderen – die Entwürfe seines Hauses schwenkten als ästhetische Punktlandungen zu den Autosalons oder gleich zu den Auftraggebern. Auch wenn die noch dezent dran herumbesserten: Pininfarina traf auch dann ins Schwarze, wenn er ins Blaue gezielt hatte.

Das Verspielteste war, wenn man ihn übersetzt, der Name: Kleinmehl. Wobei Pinin erst 1961 offiziell zu Farina kam, aber der Reihe nach.

Als Gründungsjahr von Carozzeria Pinin Farina steht 1930 in den Annalen, auch wenn davor schon bei Stabilimenti Farina 24 Jahre lang hinreißende Karosserien entstanden: Diese Firma gehörte Battista Farinas großem Bruder Giovanni (1884–1957), der neun Jahre später geborene Battista war immer der Kleine. Battista „Pinin“ Farina, und wie das so ist mit hartnäckigen Spitznamen: Sie bleiben auch tief im Erwachsenenalter haften, vor allem, wenn man sie selbst in seinen Firmennamen pflanzt. Flucht nach vorne ist da ein hilfreicher Gedanke. 1961 wurde Battista Farinas Name hochoffiziell zu Pininfarina, also gleichermaßen verlängert und verkleinert, die Erlaubnis dazu sprach der italienische Staatspräsident persönlich.

Battista Pininfarina verstarb 1966, sein Sohn Sergio (1926–2012) übernahm, in der väterlichen Firma aktiv war er ohnedies längst.

Vom Einzelstück zur Serie

Während in Vorkriegstagen hauptsächlich Einzelstücke auf zugelieferten Fahrgestellen entstanden, reiften nach dem Zweiten Weltkrieg die Serienautos. Pininfarina zeichnete für praktisch alle italienischen Marken, schuf Kunstwerke für Ferrari (die Partnerschaft sollte von 1951 bis zum F12berlinetta von 2012 bestehen) und Alfa Romeo und Lancia und Abarth, weitete sein Betätigungsfeld bis in die USA aus (Cadillac! Nash!), hatte gute Kunden in Frankreich (Peugeot, fast lückenlos ab dem 403 von 1955, und Simca), um nur einen kleinen Ausschnitt des Werks auszubreiten.

1967, als die Trapezlinie noch sehr lebendig war, schaute Pininfarina wieder in die Zukunft. Dass er dabei zur Technik des Austin/Morris 1800 griff (der Landkrabbe mit Hydrolastic-Federung), mag auf den ersten Blick originell erscheinen, immerhin war der 1800 ein ziemlicher Misserfolg. Allerdings ein technisch brillanter: Alec Issigonis hatte das Konstruktionsprinzip des legendären Mini (Frontantrieb, Quermotor, viel Innenraum) zwei Nummern vergrößert, aber leider aufs Design vergessen. Gut, die Front stammte angeblich ohnedies von Pininfarina, der aber später wenig Wert drauf legte, auch mit dem Rest des Autos in Verbindung gebracht zu werden. Angeblich war’s die Putzfrau in aller Früh, aber wie dem auch sei: Mit dem BMC 1800 Aerodinamica schuf Pininfarinas Paolo Martin 1967 eine elegante, aerodynamische Fließheck-Limousine, glattflächig, stilistisch einer Tragfläche durchaus verwandt und vom Wind kaum wahrnehmbar. Man sah derlei später auf der Straße bei Citroën GS und CX, bei Alfasud, Lancia Beta und Rover 3500. 

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Die zweite Generation: Sergio Pininfarina (1926–2012), 1965 überredete er Enzo Ferrari zum Mittelmotor.
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Trapezlinie at its best: Der Morris Oxford hatte etliche Geschwister, Peugeot 404 und Fiat 1800 bis 2300 sahen auch so aus.

Der große Aufstieg …

Über die Jahre eröffnete Pininfarina einige Fabriken, um Cabriodachsysteme für andere Marken zu fertigen. Oder auch eigene Autos, wieder muss die Aufzählung höchst unvollständig bleiben: Alfa Giulietta Spider, Fiat 124 Spider (später, als Fiat nicht mehr wollte, als Pininfarina Spider), Peugeot 504 Cabrio und Coupé, etliche Ferraris, Lancia Beta Montecarlo, Peugeot 406 Coupé, Mitsubishi Pajero Pinin, Ford Focus Cabrio, Volvo C70 und Dutzende andere.

Auch Hochgeschwindigkeitszüge, Flugzeuge, Inneneinrichtungen kamen in den 80ern ins Portfolio, 2006 markierte mit 2.768 Angestellten den Höhepunkt. Da waren die Zeiten schon ein wenig schwierig, mit Verlusten ab 2005 und massiven Restrukturierungen. Investoren kamen dazu, dann verstarb 2008 Firmenchef Andrea Pininfarina, 51-jährig, bei einem Unfall mit seiner Vespa.

Paolo Pininfarina, seit dem Unfalltod seines Bruders Vorsitzender der Pininfarina S.p.A., ist am 9. April von uns gegangen, lediglich 65 Jahre alt.

… und ein kleiner Fall

Mehrheitseigentümer ist die Familie allerdings schon länger nicht mehr: Seit 14. Dezember 2015 gehören 76,06 Prozent von Pininfarina zur indischen Mahindra Gruppe. Deren philanthropische Tradi­tion ist lang, man darf also davon ausgehen, dass Pininfarina weiterhin als Denkmal seiner selbst gewürdigt wird.

Der Togg T10X aus dem ehrwürdigen Haus ist der bislang jüngste Entwurf, er wird seit Oktober 2022 produziert. Wer jetzt auf ein chinesisches Auto tippt – stimmt nicht, Togg kommt aus der Türkei. Und freilich müssen die Fans des Italienischen da schon ein wenig gefestigt sein: Eine italienische Firma in indischem Besitz entwirft ein türkisches Auto. Man kann zur Ablenkung ja an die Hunderten Denkmäler davor denken, und falls wir eines vorschlagen dürfen: Lancia Florida II Coupé von 1957. Der war Battista Pininfarinas liebstes Privatauto.